Wirkungen, die eine gelungene Klassenfahrt entfaltet, sind mit nichts zu bezahlen

Interview mit Prof. Dr. Klaus Zierer (Universität Augsburg)

 

Herr Professor Zierer, die Pandemie ist vorbei. Der Alltag hat uns wieder. Unsere Schülerinnen und Schüler besuchen wie gewohnt die Schule. Also alles gut?
Mitnichten. Lehrpersonen in der Schule bekommen gerade tagtäglich zu spüren, was sich in der empirischen Bildungsforschung so während der Corona-Pandemie abgezeichnet hatte: Die Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus haben Spuren hinterlassen. Kinder und Jugendliche haben Lernrückstände, weisen vermehrt psycho-soziale Auffälligkeiten vor und haben körperliche Defizite. Dies alles ist nicht alleine der Corona-Pandemie geschuldet. Aber sie hat einen Trend verstärkt, den wir seit zehn Jahren erkennen können: mit der Bildung geht es bergab und wir stehen vor großen Herausforderungen.

Malen Sie da nicht ein wenig zu schwarz? Das Bildungsniveau in Deutschland ist trotz aller Widrigkeiten weiterhin sehr hoch, die pandemiebedingten Lernrückstände werden nach und nach abgebaut und die Digitalisierung unserer Schulen hat, aus der Not geboren, einen kräftigen Schub erhalten.
Man muss zugeben, dass im Bildungssystem noch nie so viel Geld war wie heute. Daran mangelt es also nicht. Aber die entscheidende Frage ist doch, wie dieses Geld ausgegeben wird. Bei der Digitalisierung sind wir vielerorts geradezu naiv und glauben, je früher wir die Schule digitalisieren, desto besser ist das für die Kinder. Derweil hat Schule doch vor allem die Aufgabe, den Gedankenkreis zu erweitern, wie es Johann Friedrich Herbert nennt. Wenn die außerschulische Lebenswelt schon durch und durch digitalisiert ist, dann sollte es Schule gerade nicht sein. Die internationalen Vergleichsstudien belegen indes seit mehreren Jahren - ob PISA, TIMMS oder IGLU - dass das Leistungsniveau sinkt und Deutschland fällt immer mehr ins Mittelmaß zurück, bei doch dramatischen Zahlen an Kindern, die die Mindestkompetenzen im Rechnen und Lesen nicht erreichen. Angesichts des Zusammenhanges zwischen Bildungsniveau und Wirtschaftskraft, aber auch Bildungsniveau und Demokratiefähigkeit bleibe ich dabei: Wir stecken in einer Bildungskrise.

Inwieweit können Klassenfahrten dazu beitragen, den negativen Folgen der Krise entgegenzuwirken?
Erlebnispädagogische Maßnahmen, zu denen gut gemachte Klassenfahrten auch zählen, haben nicht nur die Besonderheit, dass sie langanhaltend wirken und auch Monate später noch einen positiven Effekt haben - die meisten pädagogischen Maßnahmen verlieren ihren Effekt, sobald sie eingestellt werden -, sie sind geradezu prädestiniert, um gegen die skizzierte Bildungskrise anzugehen. So können einerseits Lernrückstände über die Tage verteilt angegangen werden, aber auch intensiver miteinander gelernt und gelebt werden, wie es in den Klassenzimmern nicht möglich ist, und auch entsprechend rhythmisiert werden, was der körperlichen Verfassung zugutekommt. Alles in allem stellen gut gemachte Klassenfahrten also eine Bildungsmaßnahme im umfassenden Sinn dar, die gerade nach Jahren der Einschränkung aufgrund der Corona-Pandemie wichtiger denn je ist.
Die Zeiten sind schwierig: Personalmangel an den Schulen, steigende Preise und eingeschränkte Beherbergungskapazitäten. Was empfehlen Sie aktuell Lehrerinnen und Lehrern für ihre Planungen? Es gibt ein schönes Zitat von Friedrich von Schiller: „Raum ist in der kleinsten Hütte für ein glücklich liebend Paar.“ Als Lehrpersonen können wir uns das zu Herzen nehmen: Es muss nicht die Fünf-Sterne-Unterkunft sein, wichtiger ist, was vor Ort passiert, welche Interaktionen entstehen, wie miteinander kommuniziert wird. Dabei ist wichtig, die Lernenden möglichst frühzeitig und intensiv einzubinden - in der Planung, in der Organisation und in der Durchführung. Auch Eltern können hier hilfreich sein, beispielsweise auch durch ein Sponsoring. Wünschenswert ist sicherlich, dass Schulleitungen, Träger oder auch die Ministerien den Lehrpersonen Rückendeckung geben und das gezeigte Engagement würdigen und unterstützen. Wer zweifelt, dem sei gesagt: die Wirkungen, die eine gelungene Klassenfahrt entfaltet, sind mit nichts zu bezahlen.

Pandemie, Klimawandel-Ängste und nicht zuletzt ein Krieg, diesmal ganz in der Nähe: viele Faktoren tragen zu einer zunehmenden Polarisierung der Gesellschaft und zur Verunsicherung jünger Menschen bei. Welche Maßnahmen sind jetzt geboten, um unsere Schülerinnen und Schüler auf eine trotz allem lebenswerte Zukunft vorzubereiten?
Sie sprechen es in der Frage an: Werte! Schule muss gerade in einer Zeit der Verunsicherung eine Wertorientierung geben. Kindgemäß und sachgerecht sind die aktuellen Themen auch in der Schule aufzugreifen. Eine Schule ist eine „embryonic society", wie es John Dewey nennt, ist eine polis: im Kleinen findet sich das Große. Insofern geht es in einer Schule nicht nur um Wissen und Können, sondern immer auch und vor allem um Herzens- und Charakterbildung. Dazugehören die Fragen der Zeit. Es ist schwer nachvollziehbar, warum Kinder und Jugendliche lange Zeit freitags auf der Straße mehr über Nachhaltigkeit gelernt haben als in der Schule. Eine Schule in der Demokratie muss eine demokratische Schule sein. Wenn junge Menschen erkennen, dass sie Teil des Ganzen sind, Einfluss nehmen können, gehört werden und auch aktiv werden können, dann entwickelt sich Schule vom Lernort zum Lebensraum.

 

Univ.-Prof. Dr. Klaus Zierer, geboren 1976 in Vilsbiburg, ist seit 2015 Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg. Davor war er Universitätsprofessor für Erziehungswissenschaften mit dem Schwerpunkt Allgemeine Didaktik / Schulpädagogik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Er studierte von 1996 bis 2001 das Lehramt an Grundschulen und war von 2004 bis 2009 als Grundschullehrer tätig. An der Ludwig-Maximilians-Universität München wurde er 2003 promoviert und 2009 mit einer international vergleichenden Arbeit über eklektisches Vorgehen in Lehrbüchern der Didaktik und des Instructional Design habilitiert. Im Rahmen seiner Habilitation war er im Trinity Term 2009 Visiting Research Fellow am Department of Education der University of Oxford und ist seit 2010 Associate Research Fellow am dortangesiedelten ESRC Centre on Skills, Knowledge and OrganisationalPerformance (SKOPE).